Das vergessene Kind

Stella war ein erwachsenes Kind, in einem Elternhaus aufgewachsen, in dem Alkohol regierte. Wie viele andere Kinder der damaligen Zeit, war auch sie einem enormen Leidensdruck ausgesetzt. Und wie viele andere dieser Kinder wurde sie schon früh zur Managerin der Sucht ihrer Eltern. 


Stella konnte bereits beim Öffnen der Tür spüren, ob sie getrunken hatten. Irgendwann wusste sie mit nur einem Blick, wie die Stimmung zuhause war. Ob Gefahr drohte. 


War die Stimmung zuhause gut, blieben die Flaschen zu. War sie schlecht, würde sie wieder eine schlaflose Nacht vor sich haben, am nächsten Tag die Wohnung vor der Schule aufräumen und die leeren Flaschen in ihrem Schulranzen wegbringen müssen. Sie würde wieder mitten in der Nacht geweckt werden, um mit ihren 8 Jahren über "richtig" und "falsch", "schuldig" und "unschuldig" zu richten. Immer der Gefahr ausgesetzt, sich falsch zu entscheiden und den Zorn auf sich zu ziehen. Sie würde Angst haben, vor den Schreien der Mutter, den leeren Blicken und den verzerrten Gesichtern beider. Sie würde wieder die offene Gewalt erleben, sie würde vielleicht wieder Blut wegwischen müssen, sie würde wieder zu einer Erwachsenen gemacht, die diese aufgebürdete Verantwortung kaum tragen kann. Sie machten Stella zu einer Komplizin und sie entwickelte schon früh ihre eigenen Strategien, um damit umgehen zu können.


Die wichtigste Strategie war es, das ganze vor der Außenwelt zu verschweigen und zu verschleiern. Freunde nach Hause zu bringen, hat sie stets vermieden. Schließlich ähnelte die Verfassung ihrer Eltern häufig einer Achterbahnfahrt und war unberechenbar. 


An einem Tag hatten sie sich unter Kontrolle und widerstanden dem Griff zur Flasche, am anderen Tag konnten sie schon mittags keine zusammenhängenden Sätze formulieren. Oder sie ließen sie nach der Schule stundenlang nicht in die Wohnung, weil sie ihr Klingeln nicht gehört haben. Oder einfach ignorierten. 


Angst, Gewalt und Unsicherheit beherrschten Stellas Leben. Und so blieb ihr nichts Anderes übrig, als sich auf diese Situationen einzustellen. Sie versorgte sich und ihre Geschwister, beschützte sie, zog sie an und brachte sie in den Kindergarten, übernahm den Haushalt und die Einkäufe und musste sich schon früh viel selbst beibringen. Stella hat früh gelernt, Krisen zu meistern und Angst auszuhalten. So entwickelte sie schon als Kind Widerstandskräfte, ihre Resilienzen, die sie damals gerettet haben und die sie irgendwann als Bereicherung fürs Leben empfinden würde. 


Sie hat gelernt, Gefühle und Stimmungen in den Gesichtern, den Gesten und sogar in für andere überhörbaren Untertönen ihrer Mitmenschen zu erkennen und richtig zu deuten. Sie lernte, ihre Mitmenschen zu lesen. In ihren Augen Gutes und Böses zu erkennen, ein verlässliches Bauchgefühl zu entwickeln. Sie brachte sich früh bei, auf sich selbst aufzupassen und für sich und andere Verantwortung zu übernehmen. 


Unsicherheit wurde zu der einzigen Konstante in ihrem Leben. Wie ein Seismograph hat sie auch das kleinste Anzeichen für eine drohende Stimmungsschwankung, eine neue Erschütterung, herausgefiltert. Aber trotz aller Tapferkeit blieb sie der Unberechenbarkeit ihres Umfelds stets ausgeliefert. Ihre Kindheit wurde zu einem Spießrutenlauf. Zu einem Spagat zwischen Angst und Mut. Zu einer Spaltung zwischen dem Wunsch nach einem fried- und liebevollen Zuhause und einem Zuhause voller Furcht und Chaos. Und so blieb die Beziehung zu ihren Eltern sehr ambivalent: Auf der einen Seite dominierten Wut und Hass, auf der anderen Seite stand die Verbindung und Liebe zu ihren Eltern. Trotz allem, weil es keine loyaleren Wesen als Kinder gibt.


Sie kannte sich gut unter scharfem Beschuss und Bombenhagel aus, Normalität und Frieden blieben deshalb für sie immer verdächtig und suspekt, weil sie immer mit dem nächsten Angriff, mit der nächsten Zerstörung, rechnen musste.


Verlässlichkeit, Vertrauen, feste Strukturen, emotionale Stabilität... nein, das wurde ihr nicht zuteil. Aber Stella wusste schon früh: Sie konnte sich nicht aussuchen, in welche Umgebung sie hineingeboren wurde. 


Aber es lag an ihr, sich selbst bewusst für ein anderes Leben zu entscheiden. Mit all der Stärke und den wunderbaren Eigenschaften, die sie in dem Chaos gelernt hatte. Lernen musste.