Modus vivendi

Man kann die Augen vor Dingen verschließen,

die man nicht sehen will.

Aber man kann das Herz vor Dingen nicht verschließen,

 die man nicht fühlen will.


Nur noch ein Tag, ein Augenblick, ein einziger Kuss, eine Freudenträne, nur ein Atemzug, ein Fehler, ein kleiner Aufschub, ein kurzer, warmer Blick, nur noch eine liebevolle Berührung, eine Umarmung, ein Wort, ein winziger Moment der Gnade, eine einzige Stunde, ein einziges Gestern, nur noch ein bisschen Zeit...ein bisschen gemeinsame Zeit...


Ich flehe danach, nach einem Aufschub, schreie stumm danach, quäle mich, träume davon. Doch es bleibt ungehört, der Wunsch bleibt unerfüllt. Ich versuche, stark und mutig zu sein, doch falle ich immer wieder. Meine Stärke reicht einfach nicht. Auch damals hat sie nicht gereicht. Der Tod hat den Kampf gewonnen, triumphierend und selbstherrlich. Und nahm mir das Liebste, rücksichts- und erbarmungslos. Nein, auf den Tod kann man sich nicht vorbereiten. Man kann nicht aufrüsten, um ihm die Stirn zu bieten, sobald er da ist. Bereit und fest entschlossen, uns alles zu nehmen und uns in die Knie zu zwingen.


Was bleibt, ist eine unfassbare Leere. Sie kriecht in jede Faser unseres Herzens und fühlt sich wohl in ihrer eigenen Dunkelheit. Die Wirklichkeit ist nicht mehr real, alles fühlt sich stumpf an. Man bleibt zurück, mit einem unerträglichen Schmerz und hunderten von Fragen. Die dumpfen Gefühle verändern sich schnell und oft nicht nachvollziehbar. Wir verlieren uns in diesem Durcheinander, in dieser Leere, die bleiben wird. Wir verlieren uns in diesen dumpfen Gefühlen, die wir erfahren müssen. Und in der Erfahrung, die wir irgendwie überleben müssen, denn niemand hat uns darauf vorbereitet. 


Was bleibt, ist eine seelische Wunde. Nur langsam und mühsam heilt sie ab, reißt immer wieder neu auf, verschließt sich nie wieder ganz.


Immer wieder reißt mich eine Erinnerungsflut mit, nimmt mir den Boden unter meinen Füßen, erschüttert meine mühsam aufgebaute Stabilität und legt die Wunde wieder frei. Sie lässt mich meine Ohnmacht und meine Verletzlichkeit sehen und erinnert mich an den unerträglichen Schmerz des Verlustes. Die Sehnsucht flutet mich, Vergangenheit lässt sich plötzlich nicht mehr mit dem Hier und Jetzt verbinden. Es ist, als müsste ich zwischen diesen beiden Welten springen. 


Es ist ein schwieriger, mühsamer Prozess, wieder ins Leben zurück zu finden, vielleicht die größte Aufgabe meines Lebens. Es wird nie wieder sein, wie es war. Nie mehr. Das spüre ich mehr als ich es weiß. Plötzlich habe ich mehr Angst vor Gefühlen, weil ich sie mit Verlust in Verbindung bringe. Schließlich hab ich den größten Verlust erlebt und weiß genau, wie Abschied schmerzt. Aber ich hab ihn auch überlebt, irgendwie.


Das Leben weiter zu leben, ist eine große Herausforderung. Das Leben wieder neu zu ordnen und sich darin wiederzufinden, ebenfalls. Es ist eine Aufgabe, die viel Kraft erfordert. Die mich öfter scheitern als gewinnen lässt. 


Aber dennoch kann ich Kräfte mobilisieren, von deren Existenz ich nichts wusste. Gegen jede Wahrscheinlichkeit trage ich Hoffnung und Widerstandskraft in mir, gebe nicht auf und halte dagegen. Zu verdanken habe ich dies meiner gut ausgeprägten Resilienz und meinen Schutzengeln, die mich immer wieder an sie erinnern. Ich bin davon überzeugt, dass mich meine Engel auf diesem schweren Weg besonders intensiv begleiten.


Sie schwingen ihre großen, warmen und leuchtenden Flügel schützend um mich und halten mich fest, solange ich diese rettende Umarmung brauche. Sie halten mich, wenn ich weine  und verzweifle, wenn mich der Schmerz überrollt, wenn die Sehnsucht unerträglich ist. Sie sind stark, wenn ich es nicht sein kann. Sie halten und stützen mich, wenn ich es am meisten brauche. Sie kämpfen darum, dass ich wieder einen festen Platz im Leben finde. Sie sorgen dafür, dass ich den Schmerz aushalten kann. Und irgendwann werden sie auch das Glas zerschlagen, das zwischen mir und der Welt steht.


Sie sind es, die den Schmerz erträglicher machen und mich daran nicht zerbrechen lassen. Die mir dabei helfen, weiterzugehen. Einen Weg, der zwar anders ist als der vorherige, aber den, der für mich bestimmt ist. Sie sind es, die mich spüren lassen, dass der neue Weg auch irgendwann wieder schöne Augenblicke mit sich bringen und mein Herz wieder leuchten lassen wird. 


Ich vertraue darauf und glaube daran. Und besonders an Tagen wie diesem flüchte ich mich in den Gedanken, dass meine Schutzengel mich mit ihren wunderschönen, stattlichen, leuchtenden Flügeln umarmen und halten.


Solange, bis ich wieder aus eigener Kraft alleine stehen kann, ohne zu fallen...