Geborgenheit

Die Wintermonate sind für viele die innigste Zeit des Jahres. Wir hüllen uns in kuschelige Wollpullover, nehmen uns die Zeit für ein ausgiebiges Frühstück mit lieben Menschen, schmeißen den Kamin an und genießen bei einem guten Glas Rotwein die Gemütlichkeit zuhause. Ohne schlechtes Gewissen genießen wir es, abends mit einem tollen Buch unter einer kuscheligen Decke zu verschwinden. Manchmal auch schon nachmittags. In diesen Momenten fühlen wir uns geborgen. Sie bedeuten Sicherheit, Schutz und Wärme.


Wir alle suchen unser Leben lang nach einem Zuhause. Einem Ort, einem Menschen oder einer Vorstellung von etwas, das uns das Gefühl gibt, angekommen zu sein. Diese Suche drückt sich in Form von Sehnsucht aus - einem großen Gefühl. 


Sehnsucht ist der Superlativ eines Wunsches nach Nähe und Geborgenheit.


Menschen, deren Leben aus dem Takt geraten ist, weil sie eine schwere Kindheit oder ein zerrüttetes Zuhause erlebt haben, erfuhren von klein auf, was es bedeutet, wenn Geborgenheit ausbleibt. Geborgenheit, ein Gefühl, das für Kinder existentiell ist. Wenn jemand in einem Elternhaus ohne Liebe aufgewachsen ist und somit kein Urvertrauen erlebt hat, der wird ein Leben lang von einer rastlosen Suche danach getrieben. Einige dieser Menschen erfahren ein Leben lang nicht, was Geborgenheit bedeutet. Sie kennen den Wert der Geborgenheit nicht, weil sie ihn in der eigenen Kindheit nicht ausreichend erfahren haben und ihnen Nestwärme gefehlt hat. Diese Menschen schütten sich mit unzähligen Aktivitäten zu, eilen und hetzen durchs Leben und versuchen auf diese Weise der inneren Leere oder Haltlosigkeit zu entkommen. 


Die Erfahrung von Geborgenheit in der Kindheit ist wesentlich für die Entwicklung einer stabilen Persönlichkeit. Sie schafft Urvertrauen und entsteht durch emotionale Zuwendung und Unterstützung. Erfährt ein Kind zu wenig davon, dann erhält es zu wenig Zustimmung zu seinem Selbst, so wie es ist. Es fehlen Rückhalt und Bestärkung, was eine Unsicherheit hinterlässt und die Identitätsfindung erschwert. Die Weichen für das Erwachsenenleben scheinen gesetzt.


Ich bin jedoch davon überzeugt, dass man durchaus die Wahl hat. Menschen, die ohne Nestwärme aufgewachsen sind, können entweder rastlos auf der ewigen Suche nach einem Geborgenheitsgefühl durchs Leben hetzen. Oder sie verwenden einen Teil der Lebensenergie dafür, sich innerlich selbst zu stabilisieren und kraftvoll und zuversichtlich durchs Leben zu gehen. Entweder oder. Es ist eine Frage der Entscheidung, abhängig davon, wie ausgeprägt die eigenen Resilienzen sind.


Aber auch Menschen, die das Glück hatten, in einem gesunden Umfeld aufzuwachsen, sehnen sich ein Leben lang nach Geborgenheit. Zu vollkommen erscheint es, dieses Gefühl wiederzuerlangen. Weil es wohl das einzige Gefühl ist, in dem wir uns selbst finden. 


Denn nur, wer sich geborgen fühlt, wird in der Lage sein, seine Träume zu verwirklichen, die Herausforderungen des Lebens zu meistern, pur und echt zu empfinden und immer wieder an den Punkt zu kommen, sich glücklich nennen zu können - weil er sicher in sich selbst ist.


Geborgenheit ist das Vertrauen, das wir ins Leben haben. Es ist ein geschützter Raum, Vertrautheit, Sicherheit, Altbekanntes. Es ist mehr als Gemütlichkeit, mehr als heißer Tee oder die wohlige Wärme eines Kamins. Mehr als Heimeligkeit. Es ist vielmehr ein inneres Heimatgefühl.


Wenn wir auch nur einmal im Leben das Gefühl von Heimat erlebt haben, dann trauen wir uns auch immer wieder hinaus ins unbekannte Leben, in neue Bindungen, neue Lieben. Weil wir einfach wissen, wir können zurückkehren an diesen vertrauten Ort, in dem wir uns sicher fühlen können. Sicher in uns selbst.


Nur in uns selbst kommen wir wirklich zur Ruhe und können auch nur dort wieder die nötige Kraft für neue Kämpfe tanken. Dort fühlen wir uns gut aufgehoben und verstanden. Nur die innere Geborgenheit hebt uns auf, wenn wir durch die Anstrengungen des Lebens in die Knie gezwungen werden. Sie hüllt schützend ihre starken Hände um uns. Sie gibt uns eine tragende Basis.


Die innere Geborgenheit ist ein großes Geschenk. Sie bedeutet, ankommen zu können, so sein zu dürfen, wie wir wirklich sind, sich nicht verbiegen zu müssen, um Anerkennung zu finden, loslassen zu dürfen. Sie bedeutet Frieden, Harmonie und das unbezahlbare Gefühl 'alles wird gut'.


Die innere Geborgenheit haben wir gefunden, wenn wir eine gute Beziehung zu uns selbst haben, uns selbst gut kennen mit unseren Fähigkeiten, Stärken, Bedürfnissen, Wünschen, Ängsten, Nöten und Schwachstellen. Und wir finden sie nur, wenn wir uns selbst bejahen. Nur dann ist es uns möglich, uns innerlich ausgefüllt und erfüllt zu fühlen. 


In einer Zeit, die geprägt ist von Kälte und Egoismus, vom Auflösen traditioneller Strukturen und Lebenswelten, von politischen Umwälzungen und vom Verlust religiöser Führung, von einer immer größer werdenden medialen, virtuellen Welt, wird die Sehnsucht nach Sicherheit, Schutz, Liebe, Wärme, Beständigkeit, Vertrauen und Geborgenheit immer größer.


Es liegt an uns, an jedem von uns selbst, sich zu entscheiden, ein ausgefülltes oder ein leeres Leben zu führen. Entweder oder.


Geborgenheit ist die Quintessenz aus Sicherheit, Frieden und Wärme, es ist ein durch nichts zu ersetzendes Lebensgefühl. 


Und in jedem Fall und völlig unbestritten ist dieses Gefühl es wert, dafür zu kämpfen, dass es nicht verloren geht,  es in der reizüberfluteten Welt nicht untergeht.


Manchmal ist der Weg zur inneren Geborgenheit lang und holprig, manche geben vorzeitig auf, andere versuchen es gar nicht erst. Andere hingegen kämpfen dafür, halten aus, versuchen es immer wieder. Nur sie ernten im Nachhinein das große Gefühl der inneren Geborgenheit, Halt und Sicherheit. In sich selbst.