Ich wurde zu Eltern meiner Eltern...

Irgendwann kam die Zeit, und es ist das Gesetz des Lebens, als ich zu der Mutter meiner Mutter und zu der Mutter meiner Großmutter wurde.


Als sie schwach wurden, als sie starben, war ich da, um sich vielleicht der größten Aufgabe meines Lebens zu stellen. 


Ich habe sie umarmt, sie umsorgt, sie getröstet, sie gefüttert und gewickelt, ich habe ihnen aufbauende Worte zugeflüstert, sie beruhigt, ich habe ihnen das Gefühl gegeben, dass alles in Ordnung war, ich habe ihre Seelen gestützt, war geduldig und spendete Hoffnung. Eine Hoffnung, die es nicht gab, denn ich wusste, dass sie starben.


Mein wichtigstes Ziel in dieser schweren Zeit war es, die übrig gebliebene Zeit voller Zuneigung zu gestalten. Unausgesprochenes auszusprechen, grenzenlos zu lieben und zu verzeihen. Es war eine Zeit, die den Beginn eines Lebewohls bedeutete.


Ich hielt an etwas fest, das mich großzog und mir mit der gleichen Kraft Leben schenkte, mit der ich mich nun zu verabschieden hatte.

Aus der Nachsicht betrachtet, hat diese Zeit mir geholfen, mit der Trauer umzugehen. Dafür bin ich unendlich dankbar.


Jede Umarmung, jeder Moment, jeder Atemzug, jeder aufschreckender Anruf mitten in der Nacht, jeder Kuss, jedes der unzähligen Arzt-Gespräche, jeder warme Blick, ihre Dankbarkeit, jedes Tätscheln meiner Hand, jede Berührung meines Gesichtes...stärkten mich in dieser schweren Zeit.


Jeder dieser Augenblicke war ein kleiner Aufschub. Jeder dieser Augenblicke mobilisierte meine Kräfte, die ich so oft verbraucht glaubte. Diese Momente haben sich für immer in meine Seele gebrannt. Sie haben mir geholfen, die schreckliche Zeit auszuhalten, die noch kommen würde. Jedes einziges Gestern war die Rettung in meinem Heute.


Ich war da, als sie nicht mehr alleine essen konnten, inkontinent wurden, als sie nur noch langsam laufen konnten und später gar nicht mehr, als sie verzweifelten, als sie weinten und schrieen und weinten. Als sie verwirrt waren, als sie den Ausgang aus dem eigenen Nebel nicht mehr eigenständig wiedergefunden haben. Ich habe sie durch meine Augen die Welt sehen lassen, ich habe geduldig erklärt und beruhigt. Ich habe Schlechtes aus ihrem Leben rausgefiltert, war der Überbringer von nur guten Nachrichten. Ich habe sie im Arm gehalten, ich habe sie wissen lassen, dass ich da war. Dass sie nicht alleine waren. Ich war ihr Fels in der Brandung des Lebens. 


Ich konnte es, weil ich immer wusste, immer spürte, dass ihr Altern das letzte Lebewohl in ihrem Leben bedeutete. Weil ich nicht vergessen habe, dass sie es waren, die mir das Leben geschenkt haben. Die mir beigebracht haben, zu sprechen, zu laufen, den Löffel zu halten, zu wachsen, in jeder Hinsicht.


Als ich klein war, waren sie es, die mich an die Hand nahmen, die Entscheidungen für mich getroffen und mir die Welt erklärt haben. Die das Licht angemacht haben, wenn ich nachts Angst hatte. Die mich beruhigt und versorgt haben. Sie waren für mich verantwortlich als ich klein war und ich wurde es für sie, als sie wieder klein wurden.


So wie sie meine Umgebung früher kindersicher gemacht haben, so habe ich dies in der letzten Phase ihres Lebens für sie übernommen. So wie sie meine Kindheit voller Angst, Unwissenheit, Zweifel und Besorgnis begleitet haben, habe auch ich diese Aufgabe übernommen. Ich wurde zu einer besorgten Mutter, zu einer Zeitjongleurin, einer Architektin, Psychologin, Pflegerin, Entscheidungsperson, Freizeitgestalterin, Köchin, Anwältin, Trösterin und Hoffnungsgeberin. Und all das aus vollem Herzen und unter Aufgabe meines eigenen Lebens. Mit einer unverwüstlichen Kraft und unbiegsamen Entschiedenheit.


Auch, wenn es mich manchmal die letzte Kraft gekostet hat, habe ich immer gewusst, dass diese Traurigkeit und Erschöpfung Teil der Trauer war, die ich zu verarbeiten hatte.


Es war Teil des Abschiednehmens, des Lebewohlsagens.


Denn mit ihnen ging all das, was ich mit niemand anderem geteilt habe und dessen sie jetzt keine Zeugen mehr sind.


Mit ihnen ging ein Teil von mir. 


Aber all unsere gemeinsamen Erinnerungen, in jedem Moment unseres gemeinsamen Lebens, bleiben mir für immer.