Unsichtbar

Habt Ihr schon einmal darüber nachgedacht, wie viel Gewicht Euer Leben hat...?


Stellt Euch vor, Ihr müsstet Eurer Leben in nur einem Koffer verstauen. Mit all dem Zeug, das Euer Leben ausmacht: Beginnen wir also zunächst mit den kleinen Dingen. Bücher, Erinnerungsstücke, Dinge aus Euren Regalen und Schubladen, der Krimskrams, der uns täglich umgibt. Jetzt kommen die größeren Dinge: Kleidung, elektronische Geräte, Lampen, der Fernseher… 


Der Koffer dürfte jetzt schon kaum zu tragen sein. 


Dann noch das bequeme Sofa, das Auto, Eure vertraute Wohnung. 


Was macht Euer Leben darüber hinaus noch aus? Was gehört noch in Euren Lebenskoffer?


In jedem Fall die Menschen, die teilhaben an unserem Leben. Lockere Bekanntschaften, nette Nachbarn, die Arbeitskollegen. Und dann noch die Menschen, denen wir uns anvertrauen: Geschwister, Eltern, die Lebenspartner, die besten Freunde…


Der Lebenskoffer ist jetzt nicht mehr zu tragen. Spürt Ihr das Gewicht?


Zwischenmenschliche Beziehungen sind der schwerste Bestandteil des Lebens. All die Streitereien, Diskussionen und Geheimnisse…die vielen Kompromisse und schmerzlichen Erfahrungen, Erfolge und Misserfolge, gute und schlechte Tage, Gewinn und Verlust. 

Aber auch die vielen schönen Momente haben ihr Gewicht. Momente, die uns das Leben bereitet, all die schönen Erinnerungen und Erlebnisse, die sonnigen Seiten des Lebens…all das gehört auch in Euren Lebenskoffer.


Was lässt man also folglich davon weg, wenn man nur einen einzigen Koffer mitnehmen darf?


Nach einem stressigen Tag in unser gemütliches, warmes Zuhause zurückkehren zu dürfen ist ein Segen und ein  guter Grund, dankbar zu sein. 


Denn was, wenn wir diesen Ort nicht hätten? 

Wenn wir unseren Lebenskoffer tatsächlich packen und durch die Gegen tragen müssten? Ohne Rast und ohne Ruhe? Ohne das gemütliche Zuhause, ohne den heißen Tee am Abend oder das Gefühl, sicher und geborgen zu sein?


Erschreckende Statistik

Für die ca. 700.000 obdach- bzw. wohnungslosen Menschen in Deutschland bleibt dies ein unerfüllter Wunsch. 700.000 Lebenskoffer, die tagtäglich getragen werden müssen. Ohne einen Rückzugsort, ohne die wärmende Decke im gemütlichen Bett, ohne fließendes, warmes Wasser… In Kälte und Nässe und in Zeiten der abgestumpften Menschlichkeit. 


Mit dem Verlust des Daches über dem Kopf verliert man jedoch so viel mehr als das. 

Und wird unsichtbar. Für die Mitmenschen und irgendwann auch für sich selbst. 


Obdachlosigkeit ist nicht schön und sie riecht meistens auch nicht gut.


Dabei hat doch der Mensch das Recht, sich zu waschen, aber nicht jeder bekommt die Chance dazu. Obdachlose haben keine Duschen. Genau wie alle anderen, haben sie aber ein Hygienebedürfnis. Sie können es sich nur nicht leisten. Auch in Deutschland nicht.


Wer wissen will, wie Obdachlosigkeit riecht, der ist an den Bahnhöfen der Städte richtig: Während eine S-Bahn über die Gleise rattert, stinkt es in den provisorischen Lagern nach Urin, Erbrochenem, Schweiß, nach menschlichen Ausscheidungen und altem Bier.


Aber die überwiegende Mehrheit will das nicht sehen und auch nicht riechen.


Falsche Entscheidungen

Die meisten der obdachlosen Menschen sind nicht freiwillig auf der Straße. Es gibt Menschen, die in die Wohnungs- oder gar Obdachlosigkeit gerutscht sind, weil eine wahre Kaskade von Verlusten – Jobverlust, Trennung, Ausgrenzung, Krankheit, mehrfaches Pech – sie haltlos gemacht hat. Viele möchten nicht unangenehm auffallen und versuchen hoffnungslos, unsichtbar zu sein. Sie sehnen sich auch nicht nur nach einem Obdach der Seele, sondern eben auch ganz einfach nach einem Dach über dem Kopf. Sie brauchen den damit einhergehenden Schutz. Auch sehnen sie sich nach einem strukturierten Tagesablauf, materieller Sicherheit und einem vernünftigen sozialen Netzwerk. Auf der Straße hat man in der Regel keine Freunde, das sind oft eher Zweckgemeinschaften. 


All diesen gestrandeten Seelen gemeinsam ist der Fluchtimpuls in den öffentlichen Raum, auf die Straße, um der Hilflosigkeit zu entfliehen. Auf der Straße entsteht vielfach ein „Familiengefühl“ untereinander, eine Zugehörigkeit zur „Bande“, die sich durchschlagen muss, in einer Art Parallelwelt, die mitunter die der Angepassten als feindlich betrachtet.


Durchgefallen durch die Raster unseres Sozial- und Gesundheitssystems, und für den Arbeitsmarkt nicht mehr verfügbar.


Stay at homewithout home?

Corona hat das Leben der allermeisten Menschen stark beeinflusst. Aber während die einen darüber klagen, dass sie den gewünschten Urlaub nicht antreten können, Kosmetik- und Friseursalons nicht besuchen können oder nicht uneinschränkt lange feiern dürfen, sind die anderen in ihrer gesamten Existenz bedroht. 


Abstand halten, Social Distancing, Homeoffice und Ausgangsbeschränkungen sind die Schlagworte dieser Krise geworden. Aber was bedeutet das für Menschen, die kein Zuhause haben? Wie Abstand halten, wenn man in einem Mehrbettzimmer schlafen muss? Wie erlebt man Social Distancing, wenn man schon davor längst an den Rand der Gesellschaft gedrängt war? 


Hochmut

Ohne Dach über dem Kopf zu sein ist für viele Menschen kaum vorstellbar. Insbesondere, weil wir es alle für eine Selbstverständlichkeit halten, in Häusern oder Wohnungen zu wohnen, beheizt, hell und bequem eingerichtet. Wir schätzen unser Zuhause und um nichts in der Welt würden wir es tauschen wollen gegen eine Parkbank, ein Lager unter der Brücke oder sonstige notdürftige Unterkünften. 


Wir rümpfen die feine Nase, wenn uns beim Vorbeigehen an einem Obdachlosen eine Dunstwolke von unangenehmen Gerüchen erreicht. Wir sind genervt, wenn wir angebettelt werden. 


Wir beurteilen und verurteilen. Schauen von dem vermeintlichen Oben herunter. Sind taub und erschreckend abgeklärt. Manchmal zünden wir sie auch einfach an...


Und strafen mit Ignoranz. 


Dabei lassen wir außer Acht, dass das Schicksal manches Mal arg zuschlagen und uns all unsere Privilegien wieder wegnehmen kann. Von heute auf morgen ist es durchaus möglich, dass man in die Armut und Obdachlosigkeit schlittert, sei es durch Scheidung mit finanziellem Ruin oder durch Arbeitsverlust, Schulden- und Kreditsituationen, häusliche Gewalterfahrung, Überforderung… von Krieg ganz zu schweigen. 


Es gibt auch eine unangenehme Kehrseite unserer übertriebenen Konsum- und Wohlstandsgesellschaft und es empfiehlt sich, sich gelegentlich zu erden, den Hochmut abzulegen und sich auch mit dem eigenen Tun auseinanderzusetzen: Wie viel trinke ich täglich? Wer kümmert sich im Alter um mich, wenn ich dement bin? Lebe ich über meine Verhältnisse? 


Von einer drohenden Existenzkrise und einer daraus resultierenden Obdachlosigkeit ist niemand sicher. Die aktuelle Pandemie-Situation macht das besonders deutlich.


Niemand kann das Schicksal vorhersagen.


Ein Abstieg aus der Gesellschaft kann schnell gehen. Und er nimmt keine Rücksicht. Auch nicht auf unsere „feinen Näschen“. Niemand in Deutschland kommt obdachlos zur Welt. 


Also klagt nicht über eine Heizrechnung, denn diese bedeutet, dass Ihr es über den Winter zuhause warm hattet.


Klagt nicht über Unordnung nach einer Party, denn diese bedeutet, dass Ihr Freunde habt.


Klagt nicht über Steuern, denn diese bedeuten, dass Ihr einen Arbeitsplatz habt. 


Oder über das Rasenmähen, denn das bedeutet, dass Ihr ein Zuhause habt. 


Und beklagt Euch nicht über den morgens klingelnden Wecker, denn dieser bedeutet, dass Ihr eine erholsame Nacht hattet in einem warmen, gemütlichen Bett.


Seid dankbar, bleibt menschlich!